Ich kenne die Öffentlichkeit nur als Schweigen. Irgendwann hat das dazu geführt, dass ich mir Dialogpartner in meinen Texten ausgedacht habe, damit das Schweigen wenigstens in der Fiktion unterbrochen, aufgehoben würde.
Das Schweigen ist ein Gebrumm, keine Stille. Es ist das Ausbleiben von etwas, eine Leere, ein Phantomschmerz. „Müsste da nicht Beifall kommen? Wenigstens ein wütender Zwischenruf?“ Man starrt angestrengt ins Schwarze, von der Bühne aus, und obwohl man meint, dort draußen Gesichter zu erspähen, die Umrisse von Gestalten, bleibt jede Reaktion aus.
Wobei das nicht ganz stimmt. Für meinen Roman „Hohlkörper“ habe ich eine deftige Klatsche bekommen, von einer Hannoveranerin, die sich gute Unterhaltung erwartet hat, eine saftige Mediensatire, und dann kommt da dieses dürre Stück Kommunikationsstörung daher. Das stimmt, das war sicher ein Schock. Bei Amazon schlägt sich diese Enttäuschung sofort in einem Stern nieder, anders gesagt: in vier fehlenden Sternen, in einer schallenden Ohrfeige. Daran konnten dann auch die drei ausgesprochen wohlwollenden Rezensionen nichts ändern, weil zwei von ihnen aus meinem bekannten Bekanntenkreis kamen, und die dritte … ich kann es nicht belegen, aber ich hatte den Verdacht, es sei ein Ex-Kollege gewesen, der sich da begeistert für mich stark machte.
Besonders bizarr war meine Zeit als Cartoonist für das Online-Kultur-Portal Perlentaucher. Ich publizierte damals jeden Tag drei Bilder, Fortsetzungen eines postmodernen Bilder- und Bildungsbogens unter dem redaktionell festgelegten Titel „Aufzeichnungen eines toten Lektors“. Genau zwei Wortmeldungen habe ich in, was weiß ich, etwa einem Jahr täglicher Produktion erhalten. Einmal der besorgte Ausruf einer Dame: „Was ist denn aus meinem geliebten Cartoon geworden?“, als ich einmal nicht geliefert hatte oder die Lieferung verspätet online ging. Und das Zweite war eine E-Mail von einem ehemaligen Klassenkameraden, der sich um Kontaktaufnahme bemühte. Ansonsten: schloss sich um meine Bemühungen ein schwarzes Loch. Nicht mal die Redaktion ließ sich zu einer Reaktion herab. Was mich besonders irritierte, weil eine Publikation ja von Feedback lebt, vom Dialog mit der Leserschaft – offenbar aber nicht vom Dialog mit den Beiträgern. (Ich bekam kein Geld für meine Arbeit; vielleicht war das der springende Punkt.)
Aber so ist es eben mit der Öffentlichkeit. Sie macht einen sensibel. Wenn man ohnehin schon eine dünne Haut hat, kann die Begegnung mit der Öffentlichkeit zu einer äußerst schmerzhaften Erfahrung werden. Viele da draußen suchen ihr Heil deshalb in der Attacke. Aggressivität verschafft einem auf jeden Fall Aufmerksamkeit, und sie gibt einem den Anschein der Unverwundbarkeit. Diese Peiniger hauen darum erst einmal richtig drauf, hauen erst mal zu, sie stoßen, drängeln, schließen die Augen und rammen mit dem Ellbogen ziellos durch die Luft. Ich habe schon erlebt, wie manche sich entschuldigt haben, wenn ich dann mäßigend, vernünftelnd, freundlich noch einmal nachgehakt habe, auf das Missverständnis hingewiesen, in die richtigen Bahnen gelenkt. Dauernd kann man das aber auch nicht machen.
Im Ernst will man das nie machen müssen.
Ich glaube, daher kommt es auch, dass unsere Öffentlichkeit so flach und polemisch, so säurescharf und dabei todlangweilig geworden ist. Alles Persönliche fehlt, der persönliche Standpunkt. Zum einen hat das mit dem Verschwinden (oder Aussterben) der Geschichte zu tun; niemand hat im Ernst mehr wirklich etwas zu sagen. (Unabweislich wird diese Erkenntnis, wenn man Imre Kertész in seiner „Letzten Einkehr“ liest.) Zum anderen aber ist diese Versachlichung sicher auch eine Schutzfunktion. Niemand will sich dem da draußen, dieser hechelnden Mördergrube, mit seinem echten Ich aussetzen. Also schafft man sich einen Avatar aus Meinungsstahl. (Es gibt einen Film mit Bruce Willis, fällt mir da gerade ein, in dem Willis, ein Polizist, ganz bequem von Zuhause aus mit einem solchen ferngesteuerten Kunst-Ich auf Verbrecherjagd in der feindlichen Umwelt geht.) Soll doch dieser aus neunmalklugen Memen zusammengebaute Roboter auf die Schnauze bekommen! „Wir sitzen derweil zu Hause und schlürfen Rotwein, während wir uns von Netflix die Netzhäute betäuben lassen“ – wollte ich gerade schreiben, da fiel mir die Abgegriffenheit dieses Bildes auf die Füße. Nein, so bequem ist unser Leben ja nicht mehr. Die meisten sitzen zu Hause und arbeiten an der Selbstoptimierung, mit Cycling, mit Yoga oder exotischen Kochrezepten. Aber so oder so gehen wir weiter echten Konfrontationen, echten Erlebnissen aus dem Weg.
Was uns glücklicherweise von Tag zu Tag leichter fällt.