Wissenschaftskritik I

von phorkyas

Die Ankündigung auf dem Umband, dass uns hier von einem bedeutenden Physiker ein Problem aufgezeigt werde, dessen Lösung die Zukunft der Menschheit mitbestimmen könne, sie hätte sehr skeptisch stimmen können gegen dieses schmale Bändchen. Der große Namen, jedem Physiker von der Heitler-London Näherung bekannt, beruhigte mich, wie auch der erschwingliche Antiquariatspreis den Kauf begünstigte.

Nur das von Herrn Heitler angeschnittene Thema entzieht sich weiterhin einer vernünftigen Bearbeitung, so versuche ich nun zunächst einmal mit der sicher zu bewerkstelligenden Zusammenfassung.

Die „Dämonie der Wissenschaft“

In der Einleitung stellt der Autor ausgehend von der „Dämonie der Technik“ (z.B. Massenvernichtungswaffen oder Entfremdung von der Arbeit) die Frage, ob man nicht auch von einer „Dämonie der Wissenschaft“ sprechen sollte und meint dass der „Leser im folgenden genügend Anhaltkspunkte dafür [fände], daß die gegenwärtige Wissenschaft selbst lebensfremde, sogar ausgesprochen lebensfeindliche Züge [aufweise].“ Die Relevanz dieser Frage ergibt sich auch aus dem „Drang zur Ausbreitung“ der Wissenschaft, mit dem sie schließlich in all unsere Lebensbereiche vordringt. Schließlich sei „[d]as Ansehen der Wissenschaft [..] groß geworden, daß bald jeder, der etwas auf sich hält, glaubt sich ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen zu müssen.“ Wenn statistische Methoden zur Beschreibung von Kriegsausbrüchen verwendet wird und so gerade das Psyschologisch-Menschliche ignoriert wird, so sei das leicht als „Pseudowissenschaft“ oder „wissenschaftlichen Kitsch“ erkennbar. Allgemein sei es fraglich, wenn „Methoden oder Denkweisen, die ursprünglich von den exakten Wissenschaften herrühren [..] auf ganz anderes, z.B. auf menschlische Verhältnisse übertragen werden.“

Von der teleologischen Betrachtung zu kausal-deterministischen Gesetzen

Im ersten Kapitel „Newton contra Kepler“ nimmt Heitler die beiden, um zwei unterschiedliche philosophische Grundpositionen zu kontrastieren. So streicht er hervor, dass Kepler noch ganz im Sinne Pythagoras‘ nach den sphärischen Harmonien suchte. Sein erster Versuch etwa die Planetenbahnen in die platonischen Körper einzuschreiben mutet heute sehr naiv an und seine astrologischen Behauptungen würden ihn gänzlich diskreditieren. Was Heitler hervorstreicht ist, dass Keplers Betrachtungen auf die Planetenbahnen als Ganzes zielen. Für ihn tragen sie Sinn, indem sie die göttliche Ordnung erscheinen lassen. Er nähert sich so der Naturbeschreibung unter einem gewissen metaphysischen „Vorurteil“ – Heitler nutzt die Gelegenheit für die Bemerkung, dass die Physik im Grunde genommen von einer ähnliche metaphysische Leitidee getragen ist; dass der Schöpfer die Naturgesetze in einfacher und mathematisch eleganter Form geschaffen habe. (Selbst wenn wir den Schöpfer dort nun rausoperiert haben, eine Erklärung, warum die Welt mathematisch ist, bleiben wir weiterhin schuldig – gerade auch die Zuflucht der Physiker zum Anthropischen Prinzip ist doch nahe an der Kapitulation, am Zirkelschluss). Newton und seine Nachfolger hätten dies noch laut gesagt. Dass die teleologischen Betrachtungen so ins Hintertreffen geraten sind, dies liegt an dem Erfolg der differentiell-kausal-deterministischen Gesetze als deren Entdecker er Newton nennt (Ganz zu tragen kamen sie dann im Schulterschluss mit der quantitavien Empirie – so spircht Heitler auch von Galilei als als dem „Protagonisten der mordernen wisschenschaftlichen Weltanschauung“). Mit seinem Kraft- und dem Gravitationsgesetz konnte Newton die Keplerschen Gesetze herleiten (auch wenn er selbst dazu die Differentialrechnung nicht bemühte und stattdessen auf komplizierte geometrische Betrachtungen zurückgriff – Hierbei habe ich dann auch noch gelernt, dass Newton aus philosophischer Überzeugung Fernwirkung als absurd bezeichnete, wie andere seine Gravitationskraft beschrieben, er selbst schrieb, dass er die Eigenschaften der Gravitation nicht habe ableiten können, in welchem Zusammenhang auch sein berühmter Ausspruch „hypotheses non fingo“ fällt – Newton „genügte es eine mathematische Erklärung der Phänomene gegeben zu haben und gezeigt zu haben, dass die Resultate seiner Rechnungen mit den Beobachtungen übereinstimmen“ Agustín Udías Vallina – Also im Grunde genommen, eine sehr moderne Position). Seit Newton, so Heitler, beherrsche die Kausalidee nun allmählich die gesamte Wissenschaft. Als Beispiele wie diese nun auch auf andere Wissenschaften übergreift, führt er Darwin oder auch Marx an.

Abschließend geht er noch auf die Gefahren des Determinismus ein, der wenn man ihm entsprechend den freien Willen des Menschen leugne, zu einer Entmoralisierung führe. So kanstatiert er: „Die kausal-deterministische Denkweise hat sicher keinen oder nur einen höchst bescheidenen Platz für alles, was den Menschen angeht. Es dürfte wohl noch eine Skala von Zwischenstufen geben, wo das Prinzip der Kausalität beschränkte Gültigkeit hat. [..] Jede Anwendung auf Menschliches ist nicht nur von Übel, sondern auch gänzlich ungerechtfertigt.“

Goethe contra Newton

Im dritten Kapitel vergleicht Heitler die Farbtheorien Goethes und Newtons. Er besteht darauf, dass auch die qualitative Bezeichnung „grün“ auf der gleichen Stufe stehe wie jegliche andere objektiv-quantitive Beobachtung (z.B. die Messung des Spektrums oder der Wellenlänge). Die exakten Wissenschaften wiesen nur den quantitativ erfassbaren Erscheinungen äußere Realität zu. Die qualitativen würden ausgeschlossen oder umständlich auf quantitative zurückgeführt. So deutet er Goethes Widerstand gegen Newtons Farbenlehre als genau dieses Beharren auf den (unzerlegbaren) Qualitäten. Selbst wenn man diese nur in das Subjekt verbannte, so meint Heitler, hätte man spätestens in der Biologie das Problem, diese zu beschreiben und die Biologie könne dann nicht mit der Auffindung physikalisch-chemischer Wissenschaft auskommen. Schon daran sieht er erwiesen, dass die kausal-quantitative Wissenschaft kein „Weltbild“ ergäbe, sie sei vielmehr nur ein Teilbild, „eine Art Projektion der Welt auf eine kausal-quantitative Ebene“. In der Beschränkung auf diese Projektion sieht er letztlich die Entfremdung der Wissenschaft vom Menschen.

Das Komplimentaritätsprinzip

Ausführlich erläutert Heitler wie in der Quantenmechanik zentrale Begriffe der Newtonschen Mechanik aufgegeben werden müssen. So kann man nicht länger von der „Bahn“ eines „Teilchens“ sprechen. Auch an die Stelle des strengen Determinismus treten nun statistische Aussagen, auch wenn die Theorie als solche kausal-deterministisch bleibt.

Zwei komplementäre Messgrößen, wie beispielsweise Impuls und Ort, können nicht gleichzeitig scharfe Werte annehmen; „die gewonnene Kenntnis [der einen Größe] geht auf Kosten der Bestimmtheit einer anderen Größe“. Zwar ließe sich auch diese zweite Größe nach der Bestimmung der ersten wieder genauer messen, allerdings hat die erste Messung den Zustand schon so gestört, dass bei Messungen an größeren Ensembles von Teilchen größere Streuungen in den Meßwerten der zweiten Messgröße, diese nicht mehr so genau bestimmen lassen würde. (Dieses Prinzip lässt sich leicht veranschaulischen. Würde man zur Ortsbestimmung beispielsweise elektromagnetische Wellen einsetzen, so ist das optische maximale Auflösungsvermögen näherungsweise durch die Wellenlänge der eingesetzten Strahlung gegeben – beim Mikroskop gibt es noch raffinierte Verfahren diesen Beugungslimit noch zu umgehen. Nun steigt mit sinkender Wellenlänge aber die Energie der einzelnen Strahlungquanten, die proportional zur Frequenz ist. Stoßen diese also auf das zu vermessende Teilchen, so kann man sich vorstellen, dass diese das Teilchen stärker herumstoßen und so den Impuls verwischen.)

Bei den erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten der Quantenmechanik kommt er auf die merkwürdige Rolle des (bewussten) Beobachters zu sprechen. Darin sieht er ein anderes Beispiel dafür wie schwierig und letztlich willkürlich die Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt ist. Die klassische Physik opfere bei ihrer Grenzziehung zum Beispiel alles Qualitative.

Zuletzt spekuliert er noch darüber, warum „[j]e weiter die Physik fortschreitet, desto größer die Abstraktion [werde], desto ‚höher‘ die Mathematik, die sie benötigt.“ Man könne kaum annehmen, daß ein Planet wisse, „was eine geodätische Linie der Riemannschen Geometrie ist, auf der er sich bewegt“. Man käme deswegen letztlich nicht umhin außerhalb von uns ein geistiges Prinzip zu sehen, das sowohl mit den materiellen Geschehnissen als auch unserer Geistestätigkeit verknüpft sei. Hierauf fügt er einen kleine Hinweis auf Platons Ideenlehre an. Der ja einige Mathematiker und Physiker auch zuneigen, die den abstrakten Begriffsbildungen Urbildcharakter zuschreiben. Abschließend bemerkt er jedoch, dass er sich nicht auf die Platonsche Ideenlehre festlegen wolle, sondern betont, dass sich nur zeige, dass je weiter man vordringe in der Physik (in atomaren und subatomaren Bereich sowie die kosmischen Dimensionen), metaphysische Fragen aufgeworfen würden.

Die Wissenschaft des Lebendigen

Heitler schickt seinen Ausführungen voran, dass er die Erfolge der kausal-quantitativen Richtung der Biologie, von Biochemie und Biophysik (vielleicht auch Genetik?), nicht schmälern wolle. Allerdings nimmt er sich die Frage vor, „wie weit physikalische und chemische Gesetze imstande sind, Lebensvorgänge zu erklären“. Was, wenn die Antwort negativ ausfällt, und Heitlers Ausführungen deuten dahin, doch in Frage stellen würde, ob die Reduktion auf physikalisch-chemische Vorgänge in der Lage ist, die folgenden typischen Lebenserscheinungen zu erklären: „1. Gestalt und Größe eines lebenden Körpers und seiner einzelnen Organe. 2. Die Evolution, die geschichtliche Höherentwicklung von diedrigen Organismen zu höheren. 3. Die Existenz von Bewußtsein in den höheren Tieren und im Menschen.“

Zunächst führt er aus, dass die Vererbungswissenschaft gezeigt habe, dass die ganze Information, die zur makroskopischen Ausbildung der Lebewesen nötig sei, schon in Makromolekülen der Keimzellen encodiert sei. Diese Makromoleküle seien aber von solcher Größe, dass die zu ihrer Beschreibung notwendigen quantenmeschanichen Gleichungen selbst auf Rechnern prinzipiell nicht gelöst werden könnten. In einer Fußnote spottet er ein bisschen über darüber, dass die Gleichungen „im Prinzip“ aber doch alles vorschreiben und beschreiben würden: „‚Im Prinzip‘ ist ein von Physikern gern gebrauchter Ausdruck, der seinen guten Sinn hat, wenn etwas prinzipiell unmöglich ist (wie z.B. die gleichzeitige Bestimmung von Ort und Geschwindigkeit in der Quantenmechanik), der aber wenig Sinn hat, wenn er im bejahenden Sinn gebraucht wird: etwas sei im Prinzip möglich, was praktisch aber in keiner Weise möglich ist und wenn auch kein Weg in Aussischt steht, der die Möglichkeit in die Tat umsetzen könnte. Jedenfalls hat eine solche Behauptung dann einen sehr vagen und hypothetischen Charakter.“

Was die Lebewesen betrifft, so betont Heitler, dass diese ein Ganzes bildeten in Größe, Form und Funktion. Die Zellteilung und -differenzierung folge so schon einer Art „Gesamtplan“, dieses herzustellen. Die Komplexität des Plans und die sinnvolle Anordnung der Organe, etc. untereinander veranlassen Heitler dazu eine zufällige Entwicklung absolut auszuschließen. Um die Absurdität vor Augen zu führen rechnet er die Wahrscheinlichkeit aus nur die erste Zeile des Faustdialogs mit 21 Buchstaben zu erwürfeln und kommt auf eine Chance von 1 zu 10^16. So mag man sich vorstellen wie gering die Chance war in der Ursuppe einen DNA-Strang zufällig zusammenzusetzen. Angesichts dessen will Heitler wohl zurück zu einer teleologischen Betrachtung der Lebewesen und der Evolution. Für einen Biologen sei es sinnvoller „zu fragen, wozu das Organ diene. Die heutige Tendenz ist aber, dies nur als Zwischenstufe zu betrachten, die nach und nach zu dem kausalen Mechanismus, der die Funktion des Organs erklärt, führen soll.“

Als er auf das Bewusstsein zu sprechen kommt, wird Heitler angesichts der Bezeichnung des Computers als „Elektronengehirn“ in einer Fußnote gar polemisch. Laut Zeitungsbericht würden Computer nun schon zur Krankheitsdiagnose eingesetzt: „Kommt es so weit, daß ein Teil der Menschheit einem mechanistischen Wahnsinn verfällt wie in früheren Zeiten dem religiösen Wahnsinn?“

Zuletzt erwähnt er eine von Bohr vorgeschlagene Hypothese derzufolge für die Lebensvorgänge eine Art Komplementaritätsprinzip gelten solle: Eine genaue Kenntnis und Festlegung der materiellen Vorgänge und der Lebensvorgänge schließen sich gegenseitig aus. Insbesondere sei es schwer vorstellbar, „daß man die physikalischen Vorgänge in den lebenswichtigen Gehirnzellen genau untersuchen kann, ohne überhaupt den ganzen Organismus zu töten. [..] Eine Wissenschaft, die sich auf Standpunkt stellt, daß Lebensvorgänge auf physikalisch-deterministische Weise bestimmt sind, und damit durchdringt, kann nur zu einer völligen Einbuße des Respekts vor dem Leben führen.“

Der Kosmos

Zunächst beschreibt Heitler wie der Mensch durch die Kopernikanische Wende seiner zentralen Stellung verlustig ging und streicht hervor, erst „die Trennung von Religion und Wissenschaft“ habe „eine von Metaphysik freien und klaren Blick für die rein physikalischen Realitäten der Außenwelt“ ermöglicht. Das Vergängnisvolle sei, „daß man von nun an in der Physik die einzige Realität sah. [..] Der Mensch wurde zu einem bedeutungslosen Wesen reduziert, und im ganzen erhielt die materialistisch-mechanisitische Tendenz den Auftrieb, den wir schon beschrieben haben.“ In dem Bild, das die Astronomie von unserem Universum zeichnet, sieht er nur den physikalischen Aspekt. Die metaphysische Kränkung weist er kurzerhand zurück: selbst wenn anderswo ähnliche oder andere Lebensformen existierten, sei es doch nicht möglich innerhalb eines Menschenlebens dorthin gelangen. Das irdische Leben (oder falls existent auch das auf Nachbarplaneten) sei für praktische Zwecke eben doch einmalig, und vor allem sei der irdische Mensch einmalig.

Schlußbetrachtung

Neben einer Zusammenfassung des bereits Gesagten, geht Heitler nun auf den Einwand ein, dass Wissenschaft als die Suche nach der Wahrheit weder moralisch oder unmoralisch sei, sondern nur ihre Anwendung. Heitler sieht hingegen eine Gefahr im Totalitätsanspruch der Wisschenschaft. „Eine Teilwahrheit, dei alles sein will, kann aber sehr wohl unmoralisch sein.“ Ziel seiner Untersuchungen sei es gewesen von innerhalb der Wissenschaft an die sie begrenzenden Zäune zu treten, gegen seinen Willen haben sich dabei metaphysische Fragen aufgedrängt. Zu alten, „überkommenen“, metaphysischen Betrachtungsweisen könne und solle man nicht zurück. Das einzige Ziel des Buches sei es gewesen , die Tür aufzustoßen für die weite Landschaft außerhalb des Geheges. Man müsse der drohenden Verödung durch das materialistisch-mechanistische Weltbild entgehen.

Edit: Das besprochene Buch ist: W. Heitler „Der Mensch und die naturwissenschaftliche Erkenntnis“ Vieweg (hier die 2. Auflage von 1962)